7. Kongress – 23. bis 25. Mai 2012 – Lucignano, Italien

ESCIF – Jahreskongress 2012 in Lucignano, Italien – Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf uns Behinderte

Thema des Kongresses:
Auswirkungen der Wirtschaftskrise auf uns Behinderte.

ESCIF ist eine Vereinigung von „Querschnittsverbänden“, mittlerweile nicht mehr nur noch auf Europa beschränkt – die Türkei und Indien waren diesmal auch vertreten. Ziel des Zusammenschlusses aller Verbände in einen übergeordneten Verband und das jährliche Treffen aller Teilnehmerländer ist vor allem der Austausch von Informationen, gemeinsames Auftreten gegenüber den Politikern um so Ziele wie Barrierefreiheit, medizinische Versorgung u.v.m. zu verbessern bzw. in manchen Teilnehmerländern erst zu etablieren.

Veranstaltungsort war diesmal Lucignano, ein kleiner Ort in der Toskana. Untergebracht waren wir im Hotel I Girasoli. Das Hotel liegt sehr schön, ruhig, nur mit Auto zu empfehlen. Die ganze Hotelanlage ist rollstuhltauglich (auch Lift in den Pool vorhanden), wobei aber gesagt werden muss, dass beim Bau anscheinend nicht soviel Wert auf Qualität gelegt wurde. Z. Bsp.: Beim Duschen wird in einigen Zimmern nicht nur das Bad überschwemmt, sondern gleich das Zimmer mitgereinigt. Und die Bungalows sind für RollifahrerInnen nur eingeschränkt tauglich.

Die TeilnehmerInnen aus Kroatien konnten diesmal – aus Kostengründen – gar nicht kommen, ihrem Verband wurden gleich 40% des Budgets gekürzt – aus Sparmaßnahmen. Interessant z.B. der Beitrag aus Spanien, aus einem Land, das mittlerweile auch um finanzielle Unterstützung bei der EU angesucht hat, also praktisch vor dem Bankrott steht: in Spanien zahlen Behinderte KEINE Steuern und selbst der Partner eines Rollstuhlfahrers zahlt dort wesentlich weniger Steuern als ein „Normalbürger“. Dr. Abel, Rehaklinik Bayreuth aus Deutschland machte in seinem Vortrag den Vorschlag bei der Anschaffung eines Rollstuhls doch sparsamer umzugehen und verglich es mit dem Kauf eines Anzuges. „Es muss ja nicht immer der teuerste sein“. Nein, muss es wirklich nicht, aber für jeden einzelnen der beste. Dr. Abel ist kein Rollstuhlfahrer und ich denke, dass der Vergleich etwas sehr hinkt, denn, wenn der Anzug nicht so optimal passt, weil er eben von der Stange gekauft wurde, dann werde ich ihn sicher nicht täglich tragen und zu meinem bevorzugten Kleidungsstück erküren. Auf einen Rollstuhl hingegen bin ich 24 Stunden angewiesen, da sollte man keine Kompromisse eingehen. Natürlich, wenn ich eine besondere Farbe oder Optik will – z.B. mit Swarovskisteinchen versehen, dann muss ich das aus eigener Tasche bezahlen. Aber an der Qualität sollte nicht gerüttelt werden und eine „Einheitsversorgung“ ist zwar aus Sicht des Kostenträgers günstiger, würde aber die Lebensqualität eines jeden einzelnen Rollifahrers massiv einschränken. Es macht einen großen Unterschied, wie leicht ein Rollstuhl ist, wie leicht oder schwer er sich fahren lässt, wie bequem ich darin sitze und so weiter und so weiter. Und dies hat natürlich maßgebliche Auswirkungen auf den Gesundheitszustand jedes einzelnen.

Spannend waren vor allem die Diskussionen „abseits“ der Vorträge, die Erfahrungen Betroffener in den einzelnen Ländern. In Lettland wird zurzeit daran gearbeitet, ein einheitliches Vorgehen zum Erlangen eines Führerscheines bei der Regierung durchzusetzen. In der Ukraine müssen die Zustände für Behinderte katastrophal sein: entweder man hat persönlich Geld oder man ist auf den Staat angewiesen und dieser hat nur einen „einfachen“ Heimplatz für Menschen mit Behinderung. Generell ist die Versorgung in den Oststaaten natürlich viel schlechter als bei uns. Man sah das allein schon bei der Rollstuhlversorgung z.B. hat der Teilnehmer aus Indien einen ursprünglich Orthopädie-Rollstuhl mit Otto-Bock Sitzbespannung, die Bremsen waren irgendwie selbst gebastelt und die Bereifung stammte noch aus den Vorkriegsjahren…. Er musste auch immer geschoben werden, ich kann mir nicht vorstellen, mit so einem Gefährt alleine fahren zu können.

Sehr interessant fand ich den Vortrag von Herrn Adolf Ratzka über selbstbestimmtes Leben. Er arbeitet im Independant Living Institute und hat als Rollstuhlfahrer nach Polioerkrankung einiges erlebt. Er stammt aus Deutschland und war als Erwachsener 5 Jahre lang in einem Heim untergebracht. Für ihn war es der Horror schlecht hin. Er musste essen, wenn Essenszeit war, ins Bett gehen bzw. gebracht werden, wenn die Pflege es wollte usw. Er hat es geschafft, sich selbständig zu machen, sich seine Pflege selbst zu organisieren und privat zu wohnen. Und arbeitet für eine Selbstbestimmt-Leben Organisation.

Der Hauptsponsor der Veranstaltung, die Firma Guidosimplex, präsentierte sich auch in einem interessanten Vortrag. Ich habe gar nicht gewusst, dass diese Firma weltweit tätig ist und ihr Wissen auch in öffentlichen Verkehrsmitteln umgesetzt wird. (Z.B. absenkbare öffentliche Verkehrsmittel).

Neue Projekte wurden vorgestellt, z.B. paramap.ch aus der Schweiz: Eine Webanwendung für Rollifahrer, mit Kennzeichnung der Behindertenparkplätze, Behindertentoiletten etc. Ähnliches gibt es bereits in Deutschland unter wheelmap.de.

Schweden arbeitet an einem Gesundheitsdokument in Scheckkartengröße, das alle Angaben zur Behinderung enthält.

Insgesamt war es ein sehr interessanter Kongress für alle Delegierten. Ich reiste um einige Erfahrungen reicher und auch mit Dankbarkeit nach Hause, in Österreich leben zu dürfen und in der Behindertenarbeit schon um einiges weiter zu sein als Rollifahrer in manchen anderen Ländern. ABER das heißt nicht, dass bei uns nichts zu tun ist. Zum Abschluss ein Gespräch mit einem Mitarbeiter des SOS-Kinderdorf Österreich, den ich auf einer Flugreise nach Frankfurt kennen lernte: Ich saß auf dem Fensterplatz, nicht wissend, dass es sein Platz war. Er machte mich höflich aber bestimmt aufmerksam, dass ich auf seinem Platz sitze. Tut mir leid, ich setze mich um. Einen Moment bitte. Er war etwas irritiert, weil ich nicht aufstand, ich entschuldigte mich und erklärte ihm, dass ich Rollstuhlfahrerin sei. Aha. Er reise viel, habe sich noch gar nie Gedanken darüber gemacht wie das ginge – hätte aber unlängst folgende Erfahrung gemacht: In einem Land in Afrika wurde von SOS-Kinderdorf eine Schule gebaut. Nicht barrierefrei. Die Norweger hätten sich dann darüber sehr aufgeregt, was er aber ganz und gar nicht verstehe. Weil dort in dem Land ist ja praktisch nichts barrierefrei, man sieht auch keine Behinderten – also wo ist das Problem?

Das Problem ist leider noch in vielen Köpfen vorhanden und Barrierefreiheit ist leider noch für viele ein Fremdwort – aber wir arbeiten ja daran, das zu ändern und ESCIF hilft uns auch dabei.

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