Annemarie Grillenberger
Die sieben Stufen zum Lift
Sie sind jetzt fast allabendlich zu sehen. Sie versuchen nacheinander, die nicht einmal so hohen Stufen einer nicht einmal so hohen Stiege zu erklimmen. Den Reigen – natürlich ist es kein Reigen, sondern eine Reihe –, den Reigen also eröffnet ein Mann im Rollstuhl. Ist es ein Mann? Es könnte auch eine Frau sein, das Geschlecht ist undefinierbar. Nicht so bei den anderen, die einer oder eine nach dem anderen oder der anderen (heute muss man ja haarscharf aufpassen, genderlike zu schreiben) in der Reihe stehen, sich sichtlich bemühen, ihren offenbar mühsamen Weg fortzusetzen. Ein Mann mit Stock ist darunter, eine Frau mit Einkaufswagerl, auch eine Mutter, die einen Kinderwagen schiebt.
Und sie alle hatten die Absicht gehabt, über die Stufen zu steigen, was ihnen aber offenbar nicht geglückt ist. Es wird ihnen am 1. Jänner 2016 gelingen. Es muss ihnen gelingen. Am 1. Jänner 2016 endet die zehnjährige Frist, die das Behindertengleichstellungsgesetz eingeräumt hat, um jetzt auch die letzten Hindernisse zu beseitigen, die es unsereinem schwer bis unmöglich machen, ins Kaffeehaus zu gehen. Unsereinem. Ich habe das Wort mit Bedacht gewählt. Ich gehöre dazu. Ich weiß, was es heißt, Hindernisse überwinden zu müssen. Ich weiß, was es heißt, Barrieren zu bezwingen. Ich gehöre zu jener demografisch Jahr für Jahr, Jahrzehnt für Jahrzehnt zunehmenden Bevölkerungsschicht, die –nun, sagen wir: nicht mehr gut auf den Beinen ist. Vor allem auf den Beinen, weil diese altersbedingt schwächer geworden sind. Die gelegentlich, und sei es der Bequemlichkeit wegen, den Rollstuhl benützt. Nicht zu glauben: Rund 40 Prozent der Bevölkerung zählen, wie das Sozialministerium weiß, zur „Gruppe der mobilitätseingeschränkten Personen“. Sie sollen es ab Jänner leichter haben. Allein, leichter haben es dann auch jene, die nicht in irgendeiner Weise behindert sind. Also, wenn man den ministeriellen Angaben glauben darf (ich stehe nicht an zu erklären, dass ich ihnen aufs Wort glaube): 100 Prozent der Bevölkerung. Denn von einem Hindernis freien Umfeld, heißt es im Sozialministerium, profitieren alle Menschen. Barrierefreiheit ist essenziell für zehn Prozent der Bevölkerung, notwendig für 40 Prozent und komfortabel für 100 Prozent.
Denn das Leben ist voll von Hindernissen. Von Barrieren, die solche in weitestem Sinn sind. Sagen wir es präziser, halten wir uns an die Diktion, die von Amts wegen definiert, was den Schritt behindert und die Bequemlichkeit zudem. Man glaubt es kaum: Dazu gehören auch schmale Gehsteige, hohe Gehsteigkanten oder Stufen. Schau, schau: Wie steht es da mit den engen Gassen der Wiener City? Mit den vielen Touristengruppen, die Trottoirs blockieren, mit den an der Beliebigkeitsgrenze errichteten, die Fußgänger behindernden Busstopps, die halbe Fahrbahnen blockieren.
Vieles wird mit Jahresende anders sein, heißt es. Dann kann man sich damit trösten, dass die sogenannte Barrierefreiheit made in Austria langsam ein Stück näher an jene Bequemlichkeit heranrückt, die etwa in den Vereinigten Staaten längst selbstverständlich geworden ist. Dann kann man sich, dann muss man sich auch näher mit dem Gedanken befassen, was eine Barriere ist. Was aufhält, sich in der Umgebung zu bewegen, frei wie der Vogel im Wind. Zugegeben: Vom Behindertengleichstellungsgesetz zum Vogelflug ist ein kühner Schritt der Fantasie. Allein, gerade dieser 1. Jänner 2016 bietet Gelegenheit, sich über den Begriff „Hindernis“ Gedanken zu machen. Sich zu fragen, was denn wirklich unter einer Behinderung im engeren und weiteren Sinn zu verstehen ist.
So betrachtet, ist die Barrierefreiheit viel weiter gespannt, als wir es im Allgemeinen annehmen könnten. Sie ist sogar ideologisch zu sehen. Sie ist mehr als das Stolpern über eine Stufe. Sie hat – Sie werden verstehen und dann auch verzeihen – sogar gewisse mythologische Züge. Ich weiß, wovon ich spreche. Gedanken dieser Art kommen immer wieder, wenn ich versuche, die sieben Stufen – sieben, diese heilige Zahl! – bis zum Lift zu bewältigen.
Alter ist Barriere. Alter ist ein Hindernis. Das war es immer schon. Das elektronische Zeitalter, mehr noch: das technische Zeitalter, hat für Bequemlichkeit gesorgt. Es hat eine Zeit gegeben, da das Stiegen steigen nur aus eigener Kraft zu bewältigen war. Die erste und wichtigste aller Barrieren war die Problematik des Erklimmens von Örtlichkeiten, die nicht zu ebener Erde erreichbar waren. Schon die alten Römer haben nicht nur ebenerdig gebaut. War ihnen Bequemlichkeit ein sekundäres Bedürfnis? Haben die Bewohner der mittelalterlichen Orte in Italien, die ihre Häuser an Abhängen und Steilküsten errichteten, an leichte Erreichbarkeit gedacht? Hatten sie Stufen eingeplant, Stiegen, abschüssige Wege?
Es sind allerlei Gedanken, die einen befallen, wenn man sieben Stufen zu bewältigen hat. Man denkt etwa an den Lift, der – ich weiß nicht mehr, wann – erstmals in einem Kaufhaus installiert worden ist. Man nannte ihn „Paternoster“, und er war fast so etwas wie ein Abenteuer. Er stoppte nie, sondern man musste ihn erklimmen, wenn die nächste Kabine gerade fast ebenerdig war. Als Kind hatte ich mich immer gefragt, wohin dieser immerwährende Aufzug entschwand. In den Himmel, weil er ja von den Erwachsenen „Paternoster“ genannt wurde? Ich durfte ihn nie benützen. Ich musste über die Stiegen laufen.
Und dann kam die Rolltreppe. Ein Kaufhaus an der Mariahilfer Straße hatte die erste montiert. Wunder der Technik! Natürlich ebenfalls für Kinder unbenützbar. Aber bewundernswert. Eine Stiege, die sich bewegte, unaufhörlich, mit relativ hohen Stufen noch dazu. Ein automatisches Wunderwerk, der menschlichen Bequemlichkeit zuliebe konstruiert. Der Bequemlichkeit zuliebe. Was ist bequem? Noch einmal: die alltäglichen Handgriffe ohne Schwierigkeit bewältigen zu können. Oder, wie es das Sozialministerium vorgibt: barrierefrei leben und agieren zu können. Das besagte Ministerium fasst es genauer: „Die Barrierefreiheit ermöglicht allen Menschen mit und ohne Behinderung uneingeschränkte Nutzung von Dienstleistungen, Einrichtungen und Gegenständen im täglichen Leben. Dies am besten in allgemein üblicher Weise, ohne Beschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe.“
Darf ich noch einmal einen kurzen Ausflug ins Philosophische machen, ins Mythologische gar? Oder, wenn man will, ins Religiöse? Da kommt sofort die Himmelsleiter ins Gedächtnis. Oder die Stufen, die zum Himmel, in den Himmel führen. Ganz ohne Behindertengleichstellungsgesetz ist für die Gläubigen das Paradies nicht ohne Behinderung erreichbar. Man könnte, wenn man will (in der Tat, skurrile Gedanken beim Übersteigen der sieben Stufen zum Lift!), es wieder mit dem Paternoster in Einklang bringen. Oder wieder mit den alten Städten?
Sie trennen zwischen Arm und Reich. Aus Gründen, die nicht immer leicht zu erklären sind, waren die Slums, die Wohnstätten der Armen, stets zu ebener Erde zu finden, während die besser gestellten Stadt- oder Dorfbewohner weiter oben hausten. Warum? Weil die Luft dort angeblich reiner ist? In Tokio weiß man anderes zu berichten
Und doch hat das Soziologische mit dem Mythologischen und Religiösen auch in dieser Hinsicht mehr zu tun, als man glauben sollte. Die Kirche auf dem Berg ist jeweils ein Denkmal des Glaubens, und dass sie nur über Stufen zugänglich ist, lässt meinen, dass sie aus guten Gründen nicht ohne Beschwernis erreicht werden kann. Ich kenne kaum eine Wallfahrtskirche im Tal; die meisten sind auf Hügeln errichtet, Mariazell ist da ein gutes Beispiel. Dass mitunter zusätzliche Bußübungen den Gläubigen abverlangt werden, steht zwar nicht im Einklang mit dem Behindertengleichstellungsgesetz, hat aber zur Folge, dass, wer büßt, die allenfalls notwendige Gleichstellung nicht in Anspruch nehmen muss.
Das mündet alles immer wieder (neuerlich Gedankenflucht beim Versuch, die sieben Stufen zum Lift zu bewältigen) in der abermaligen Frage, was denn wirklich eine Behinderung sei. Dazu nochmals das Sozialministerium: „Unter einer Barriere ist ein Hindernis zu verstehen, das Menschen in ihren alltäglichen Möglichkeiten einschränkt bzw. behindert. So können zum Beispiel Stufen in einem Gebäude oder im öffentlichen Raum Rollstuhlfahrer und Rollstuhlfahrerinnen an der Teilhabe in der Gesellschaft hindern.“ Die holpernde Diktion ändert nichts an der Tatsache, dass die Begriffe „Barriere“ und „Behinderung“ sehr weit gefasst sind und andererseits nichts von dem aussagen, was zur Abhilfe getan werden könnte.
Noch einmal: Ich weiß, wovon ich spreche. In unmittelbarer Nähe meines Wohnhauses ist jüngst ein neues Lokal eröffnet worden, italienisch, wie es sich gehört, mit Verkaufspult und Tischen. Aber nur über eine Stufe erreichbar. Auch ein Handlauf fehlt. Ohne Fremdhilfe ist es unbenützbar. Das heißt: In diesem Fall ist „die uneingeschränkte Nutzung von Dienstleistungen und Einrichtungen und Gegenständen im täglichen Leben“ nicht möglich.
Da wird dann der schwammige Begriff „Zumutbarkeit“ aktuell. Ist es zumutbar, bei der Adaptierung eines neuen Lokals die leichte Benützbarkeit zu planen? Ist es zumutbar, heute Lokale barrierefrei zu machen? Wieder ist das Sozialministerium gefragt: „Nach dem Behindertengleichstellungsgesetz müssen Güter und Dienstleistungen, die der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen, diskriminierungsfrei – also auch ohne Barrieren – angeboten werden. Dies umfasst im Wesentlichen Verbrauchergeschäfte. Darunter versteht man beispielsweise tägliche Einkäufe, Urlaubsreisen, Kinobesuche, Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder Essen in Restaurants und Gasthäusern.“
Dann aber kommt gleich eine Erläuterung: „Oftmals ist es Unternehmen gar nicht bewusst, dass in ihrem Einflussbereich eine Barriere vorliegt und sie diese Barriere zu verantworten haben.“ Und dann? Es sollte dann ein „klärendes Gespräch“ geben, und wenn dies nicht zum Erfolg führt, ist ein Antrag auf Schlichtung beim Sozialministerium-Service möglich. „Nur wenn diese Schlichtung nicht zu einer Einigung führt, können Sie bei Gericht eine Klage auf Schadenersatz wegen Diskriminierung nach dem Behindertengleichstellungsrecht einbringen“, heißt es. […]
Aber das könnte ja am 1. Jänner 2016 besser werden, wenn die letzte „Fallfrist“ im Behindertengleichstellungsrecht endet. Dann wird die Frage der Zumutbarkeit zwar noch immer aktuell sein, aber ich werde die Stufen zum Lift mutiger in Angriff nehmen. Und wenn es zu schwer wird, gibt es das Rote Kreuz. Die Leute sind sehr freundlich.
(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 12.12.2015)